HIER KOMMT KEINER LEBEND REIN
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Im Universum von
Lester Bangs
By Ulrich Hesse-Lichtenberger
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Es war recht eng im BelAge Hotel von Los Angeles, im Mai 1995. Musikkritiker aus mehreren Erdteilen traten sich auf die Füße, um die Vergabe der First Annual Music Journalism Awards zu bestaunen und ihren Lieblingsfeinden dabei versehentlich die langstieligen Gläser umzustoßen. Aber trotz des Gedränges war jedem bewußt, daß man Schattenboxern gleich um eine Lücke herumtänzelte. Der Mann, der sie hätte füllen können, war nicht da - und doch fiel sein Name öfter als jeder andere. Irgendwann wurde es Lorraine Ali von der LA Times zu bunt oder einfach nur zu sentimental, und sie bezeichnete Lester Bangs als einen "Sexisten und Rassisten". Fast wäre ein Tumult ausgebrochen. Ironischerweise beklagte Ali kurz darauf, daß nur weiße Männer über Vierzig lukrative Aufträge bekämen - wo doch gerade Lester sich aus dem Staub machte, bevor er zu alt wurde. Lester Bangs starb vor fünfzehn Jahren. Einige Leute glauben zwar, er hielte sich in Mexiko versteckt und führe eine Oben-Ohne Bar in Tijuana, aber wahrscheinlich ist er tatsächlich tot. Dabei könnte die Welt einen wie ihn wirklich gut gebrauchen. Er hätte schon Platz geschaffen im BelAge. Hätte mit ausgefahrenen Ellenbogen, dem Heiligen Gral in der einen Hand und einem Unzurechnungsfähigkeits-Zertifikat in der anderen, seine Meinung zum Stand der Dinge dargelegt... Das Schreiben über Rockmusik ist in einem bedenklichen Zustand. Fast könnte man Mitleid haben mit diesem zerlumpten Kerl, der vor der Haustür lungert und einem von der Zeit vorschwafelt, in der er soviele Mädchen und Drogen haben konnte, wie seine Pumpe mitmachte. Fast könnte man seinen Kollegen, den Sozialwissenschaftler, erheiternd finden. Schließlich stört er die Nachbarn nicht, bleibt auf dem Gehweg und schenkt den Kindern Süßigkeiten. Andererseits täte das ein Kaugummi-Automat auch, und der hält wenigstens die Klappe. Zur Zeit findet die Musik auf Papier meistens dann statt, wenn Schwafler sie dazu benutzen, sich vor ihren drei Bekannten dicke zu tun. In stilistisch hoffnungslosen Nebensätzen dritter Ordnung wird nach einem klebrigen Schwamm gesucht, der sich Diskurs nennt - und dabei wird nicht bloß die Syntax, sondern auch jeder Spaß zu Grabe getragen. Und das ist noch nicht der Tiefpunkt: Kein ausreichend zynisches Adjektiv will einem einfallen, sieht man sich all jene Leuten an, deren Gehirn auf direkte Weise mit den Registrierkassen der großen Konzerne verbunden sein muß. Mit wem oder was war Lester Bangs's Gehirn verbunden? Der einzige Mensch, der das beantworten könnte, ist tot; und er scheint sein Universum mit sich genommen zu haben. Denn offensichtlich bewohnte Lester Bangs eine ganz eigene Welt, in der Regeln herrschten, die nur er durchschaute und anwenden konnte. Es gab dort Querverbindungen, die schon naturwissenschaftlich gesehen ausgeschlossen scheinen. Und bevölkert wurde sein Universum von den merkwürdigsten Kreaturen - von Genies, die sich für Spinner hielten, und von Spinnern, die vielleicht doch Genies waren. Anders gesagt: Lester Bangs war wahnsinnig. Und immer, wenn ich an ihn denke, fällt mir Edgar Allen Poe ein. (Über den ich mir auch nicht im klaren bin.)
"Doch warum wollt ihr mich wahsinnig nennen? Die Krankheit hatte meine Sinne geschärft, nicht sie zerstört oder abgestumpft - vor allem das Gehör." (Poe, "Das Verräterische Herz")
Leslie Conway Bangs wird am 14. Dezember 1948 in einer Kleinstadt bei San Diego geboren; und um das Aufleben einer alten Diskussion gleich zu verhindern: Er heißt wirklich so. Lester findet sich in einer zwar nicht kaputten, aber doch merkwürdigen Familie wieder. Seine Mutter ist fast fünfzig, als sie ihn zur Welt bringt, und bevor ihr Sohn sieben Jahre alt ist, tritt sie den Zeugen Jehowas bei. Der Anlaß für diesen Schritt ist ebenso unglücklich wie der Akt selbst: Wenige Wochen zuvor war Lesters Vater mit einer brennenden Zigarette im Bett eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Möglicherweise soll die rigide Menschenführung innerhalb der Religionsgemeinschaft dem jungen Lester den Vater ersetzen, vielleicht ist es auch die Flucht einer plötzlich alleinstehenden Frau in eine neue Familie. Ganz sicher aber schert sich Lester einen Dreck um die Kirche: Mitte der Sechziger bringt er sich von einem Besuch bei einer mexikanischen Prostituierten etwas Unangenehmes mit, und die Jehowianer werfen ihn hinaus. Es ist für beide Seiten die sauberste Lösung, denn Bangs war auf der High School zum führenden Beatnik San Diegos mutiert und begeistert sich an Creative Writing/Drama-Kursen. Seine Welt dreht sich um Kerouac und Burroughs, um Jazz und frühe britische Rhythm & Blues Bands - nicht um das Ende der Welt. Als im nahen San Francisco 1966/67 die Haare länger werden, reagiert Bangs erstaunlich zurückhaltend. Am Drogen-Rock der Westküste interessiert ihn nur das Präfix: Er teilt zwar die Chemikalien, nicht aber die Musik mit den Hippies. Als Jazz-Fan ist er ständig mit einem Ohr in den Kellern New Yorks und erwartet die Revolution von dort. Wirklich subversiv ist nur die Avantgarde der Ostküste, in Kalifornien braucht man schon Drogen, um Strand und Sonne vergesen zu können. Die Bestätigung dieser These sieht Bangs in den Velvet Underground, und sein Leben lang wird ihm diese Fixierung auf Lou Reed zu schaffen machen. Es ist 1969, und Leslie verkauft Damenschuhe. Nach Ladenschluß sitzt er in seinem Zimmer, hört Platten, die niemand sonst kennt, nimmt Drogen, die niemand sonst anrühren würde, und schreibt Texte, die niemand lesen will. Eines Tages fällt ihm ein Artikel im Rolling Stone auf, in dem eine neue Band aus Detroit als Bote des Umsturzes gefeiert wird. Bangs zählt die Stunden, bis ihr erstes Album in den Läden ist, und erwartet eine Eruption biblischen Ausmaßes. Aber das Debüt der MC5 ist nicht das, als was man es Lester verkauft hat. Er schickt einen zornigen Text an den Rolling Stone , und zu seiner Überraschung wird das Review gedruckt. Bangs zögert nicht, diese Chance wahrzunehmen: Von nun an treffen jeden Monat mehr als zehn Beiträge von ihm bei dem Magazin ein. Greil Marcus, für die LP-Besprechungen verantwortlich, ist fasziniert und wird zu Lesters einflußreichstem Förderer. Dieser gibt seine anfängliche Zurückhaltung auf und beginnt, die Grenzen des bis dahin Schreib- und Druckbaren anzugreifen. Alles, was ihn innerlich berührt, lobt er in den Himmel; alles, was ihm unehrlich oder einfach nur langweilig erscheint, wünscht er in das Fegefeuer. Bangs kennt kein Mittelmaß, nicht einmal einen Maßstab außer seinem eigenen - und der ist instabil genug. (In typischer Bangs-Manier wurde er später ein guter Freund von Rob Tyner und eifriger Anwalt der MC5.) Seiner hypnotischen Rhetorik ordnet sich alles unter, und selbst die lautesten Löcher in seinen Argumentationen weiß er durch Wortketten zu stopfen. Ein Bangs-Artikel wird nicht gelesen, er trifft einen. Am härtesten trifft es in diesen ersten Jahren die Lieblinge der anderen Kritiker: Lesters legänderer Verriß einer It's A Beautiful Day-Platte bringt ihm die Feindschft von Clive Davis ein, dem damaligen Chef von CBS; sein ebenso berühmter Artikel "James Taylor Marked For Death" erscheint 1970 in Greg Shaws Who Put The Bomp Fanzine, und es soll Leute geben, die ihn gerahmt an der Wand hängen haben. * Was schrieb Lester Bangs, und worüber schrieb Lester Bangs? Niemand hat diese Frage je schlüssig beantworten können, und die Suche nach der Antwort macht einen guten Teil der Faszination seiner Texte aus. Für Bangs gab es keine Regeln - schon gar keine grammatikalischen. Er hätte in der griechischen Mythologie so zu Hause sein können wie bei Bukowski. Da war keine Trennlinie zwischen französischen Surrealisten und abgewrackten Straßenzombies in der Lower East Side, keine Mauer zwischen Charles Mingus und den Troggs. Er tauchte mit "Abba" und "Detroit Sucks" T-Shirts auf feinen Parties auf, obwohl er die vier Schweden verachtete und die Stooges liebte - ganz zu schweigen davon, daß eine Party nicht mehr fein war, sobald Lester mit seinem schrecklichen Schnäuzer und seinen fettigen Haaren die Tür durchschritten hatte. Doch trotz seiner Rücksichtslosigkeit gegen sich und andere, gibt es niemanden, der Bangs kannte und nicht bestätigt, daß er ein guter Mensch war. Oder wenigstens ein Mensch, der an das Gute glaubte. Sein Blick auf das Leben war in gleichen Teilen geprägt vom europäischen Humanismus und Lou Reeds Junkie-Balladen: Irgendwo in dieser dunklen, großen Tragödie gibt es ein Licht der Hoffnung. Und alle, die es sehen können, tragen die moralische Verpflichtung, dies Wissen mit den Erblindeten zu teilen. Deshalb fand Bangs es nicht unverantwortlich, derb und vernichtend zu urteilen. Im Gegenteil: War James Taylor für die meisten bloß ein außergewöhnlich langweiliger Musiker, so war er für Bangs ein Verbrecher, dessen unbewußtes Ziel es war, die Schafe der Welt zufrieden zu halten. Bangs glaubte an die Größe im Einfachen, sah im Prätentiösen nur das Banale - und wußte wahrscheinlich selbst nie, ob das nun ein Widerspruch oder bloß das Leben war. * 1971 geht Bangs nach Detroit und wird dort Redakteur bei Barry Kramers Creem , wo er manchen Strauß mit Dave Marsh ausficht. Zwei Jahre später endet seine RS-Karriere, als er eine Canned Heat-Platte massakriert und die Einzelteile in seine Kühltruhe stopft. Clive Davis hat genug, und Lester wird wegen mangelnden Respekts gegenüber Künstlern vom Rolling Stone verbannt. (Es dauert sechs Jahre, bis ihn Paul Nelson begnadigt.) Im Jahre des Herrn 1976 kommt dann endlich die Revolution, auf die Bangs gewartet hat - allerdings nicht aus New York, sondern aus London. Die englischen Punks tun das, was ihnen die New York Dolls und Richard Hell vorgemacht haben, mit einem Unterschied: Sie haben Erfolg. Bangs desertiert Creem und eilt an die Ostküste, um als freier Autor für alles, was gedruckt wird (vom Village Voice bis zum NME), von den Wundern dieser Welt zu berichten. Robert Christgau wird sein Redakteur beim Village Voice und hat alle Hände voll zu tun, Lesters messianische Kreuzzüge lesbar zu halten. New York scheint Lester Bangs den Rest zu geben. Er kann nur für sich allein oder gleich für die gesamte Menschheit Verantwortung tragen - und nun ist er in der Stadt, in der solch radikale Positionen zum alltäglichen Irrsinn gehören. Bangs lebt genau jenes romantische Desaster aus, das für viele Melancholiker aus der Abgangsklasse der Jim-Morrison-High-School den Mythos des Rockschreibers ausmacht: Halb besinnungslos, halb erleuchtet hackt er des nachts endlose Artikel in seine Schreibmaschine; die Tage verbringt er im Bett oder mit irgendwelchen Pharmazeuten. Er trifft Joey Ramones Bruder Mickey Leigh, und die zwei gründen die Band Birdland. Eine Single erscheint 1979, aber die Masterbänder der im selben Jahr aufgenommen LP bleiben bis 1983 verschollen. Zu Beginn der achtziger Jahre ist Bangs auf dem Höhepunkt seiner destruktiven Phase. Er macht ein wenig Geld, indem er teilnahmslos eine Blondie-Biographie heruntertippt, und verpraßt es bei einem Besuch in Austin - der nicht nur die "Jook Savages" LP hervorbringt, sondern auch ein selbst in Texas bis dahin nicht gekanntes Massenbesäufnis. Kurz gesagt, Lester ist so gut wie tot. Seine Freunde legen auf, wenn er ihnen telefonisch krude Theorien vorbrabbelt; seine Feinde rennen zu ihrem Chefredakteur und künden vom nahen und nicht im geringsten unerwarteten Ende des spinnerten Asozialen. Doch die Erbsenzähler haben sich verrechnet. Als sei alles nur eine Frage guter Nerven, wirft sich Bangs im letzten Moment selbst den Rettungsring zu. Er tritt den Anonymen Alkoholikern bei; und trotz aller Tragik ist es ein Genuß, sich eine Gruppentherapie-Sitzung mit Lester vorzustellen... Im selben Jahr, 1981, erledigt er eine weitere jener lächerlichen Auftragsarbeiten. Diesmal ist es ein Buch über Rod Stewart, das Bangs mit Paul Nelsons Hilfe zusammenschustert. Aber der Teufel läßt den Seinen nur wenig Zeit zur Besinnung: Der Neubeginn ist überschattet vom Tod der von Lester innig geliebten Mutter. Das Jahr 1982 scheint eine Menge bereit zu halten: Bangs arbeitet an seinem Roman-Fragment "All My Friends Are Hermits" (auch bekannt als "Rock Gomorrah"). Es ist eine Kollaboration mit Michael Ochs und als Antwort auf Kenneth Angers "Hollywood Babylon" geplant. Doch diese Antwort bleibt schließlich Gary Herman vorbehalten, denn eine simple Erkältung schafft das, was zwei Jahrzehnte gelebten Wahnsinns nicht vermochten: Lester Bangs bekämpft sein Unwohlsein mit den falschen Medikamenten und stirbt am 30. April in New York.
"Ich hörte alles im Himmel und auf Erden. Ich hörte vieles aus der Hölle. Wieso bin ich dann wahnsinnig? Horcht!" (Poe, "Das Verräterische Herz")
Es ist falsch, Bangs als bloßes Kind seiner Zeit zu sehen, dafür hat er einfach zu viele wilde Schreiber der Achtziger beeinflußt. Auch zu seiner Zeit gab es Soziologen und Adjektiv-Jongleure, wie zum Beispiel Simon Frith und Dave Marsh. Und da waren viele wie Jon Landau, die nüchtern analysierten, bis der Druck eines Tages zu groß wurde: Landau schrie, er habe die Zukunft des Rock'n'Roll gesehen; CBS riß ihm das Fleisch von den Knochen, hing ihn an jede Plakatwand der Nation - und Landau bereut seinen Ausbruch von Emphase noch heute. Bangs wäre das nie passiert. Erstens sah er ständig irgendwelche Dinge, und meistens waren es viel wichtigere als bloß die Zukunft. Zweitens hätten ihn die Nadelstreifen nie für eine Kampagne benutzt - aus Angst, Bangs wäre bei einer der Firmenparties aufgelaufen. Und drittens war Reue nicht gerade etwas, auf das er Wert gelegt hätte. Lester Bangs war großspurig und furchtlos. Er schickte immer alle seine Truppen an die Front, ohne Rücksicht auf Verluste oder Gedanken an Nachschub. Kamen die Soldaten dann erschöpft und dezimiert zurück, so konnte es vorkommen, daß Bangs ihnen erklärte, der Feind sei eigentlich ein netter Kerl und man solle die Seiten wechseln. Fade Kategorien wie Gut und Schlecht waren nichts für ihn. Wahr oder Falsch - Aufregend oder Langweilig: darum ging es. Und was heute gut und aufregend ist, kann morgen schlecht und langweilig sein; es ist also feige, dumm und schließlich auch völlig sinnlos, die Dinge in Schemata zu pressen: Das Leben folgt keinem Plan, und eine Platte tut das schon gar nicht. Sie ist einfach da. Sie kennt kein Gestern und kein Morgen. Man läßt sich in sie hineinfallen, und manchmal kommt man mit einer Fackel wieder hoch. Manchmal auch mit dem Skalp von James Taylor.
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